POPCHOP: Zukunft schmeckt nicht nach Zufall

Porträt über Hanni Rützler von Bernadette Wörndl für das Jungbleiben Magazin von Vöslauer

Ein Porträt über eine Frau, die die Zukunft des Essens nicht vorhersagt, sondern mitschreibt. Mit Neugier, Tiefe – und dem Geschmack von Marillenknödeln. Ein Gespräch über das Jetzt, das Morgen – zwischen KI, Krisen und Kultur.

„Essen ist Beziehung. Zu uns selbst, zur Welt und zueinander.“

Hanni Rützler ist eine der renommiertesten Food-Trendforscherinnen Europas – und eine Pionierin auf ihrem Gebiet. An einem wolkigen Frühsommertag habe ich das Glück, dass sie – noch vor dem ersten Regentropfen –zu mir ins Studio radelt. Schön, dass wir uns endlich persönlich treffen!

Ihre Erscheinung: neugierig, lebendig, künstlerisch. Ihr Denken: weit, komplex und immer durchdrungen vom echten Geschmack.

Mit ihrem von 2014 bis 2024 jährlich publizierten Food Report hat sie als Ernährungswissenschafterin und Gesundheitspsychologin Unternehmen entlang der ganzen Lebensmittelkette Orientierung in einer sich wandelnden Esskultur gegeben. Mit ihrem neuen, eben erstmals erschienen Format – Food Context Pilot – geht sie nun noch einen Schritt weiter.

„Das ist für mich ein zusammenhängendes Ganzes – ein komplexes Lebensmittelsystem“, sagt sie.

Denn bei ihr beginnt Denken nicht beim Trend und endet nicht beim Teller. Sie beschäftigt sich mit Biolandbau, Lebensmittelhandel, Zero-Waste-Strategien, Hightech-Entwicklungen, Verpackungsfragen, Gemüseproduktion – kurz: Die gesamte Lebensmittelkette steht auf ihrem Forschungszettel.

Für Hanni ist Essen nicht nur Trend, sondern Spiegel: von Kultur, Klima, Kommunikation. Globale Entwicklungen sind für sie eng mit persönlichen Esskulturen verwoben.

Und sie scheut sich nicht vor Ungewohntem. 2013 verkostete sie als erste Person weltweit einen In-vitro-Burger – Laborfleisch, gezüchtet aus tierischen Zellkulturen. Damit stieß sie eine internationale Debatte über die Zukunft des Fleisches an. Mit einem wachen Blick fürs große Ganze und feinem Gespür für das, was zählt, baut sie Brücken zwischen Forschung, Genuss und Alltag. Sie fragt: Was nährt uns – körperlich, kulturell, gesellschaftlich, seelisch?

Wien und das Waldviertel nennt sie Heimat. Die Welt ist ihr Feld. Der Geschmack ihr Kompass.

Wenn Hanni Rützler über Essen spricht, geht es nicht um Zutaten. Mehr um Wandel. Um Werte. Um die unsichtbaren Linien zwischen Gesellschaft, Kultur und Geschmack. Für sie ist Essen kein Trendbarometer, sondern Sprache. Eine, die erzählt, wie wir leben. Wie wir wirtschaften. Wie wir hoffen. Sie hört genau hin. Und sie stellt die richtigen Fragen:
Was nährt uns wirklich? Welche Gewohnheiten verlieren wir – und welche neue Art des Essens entsteht?

„Ich bin keine Expertin für eine Branche. Ich bin Expertin für Übergänge“, sagt sie. Und genauso fühlt sich das Gespräch mit ihr an – wie ein Weg zwischen Ackerboden und Algorithmus, zwischen Kühlschrank und Kulturwissenschaft, zwischen Philosophie und Supermarktregal.

Vielleicht liegt es auch an ihrem Studium Irregulare, dass alles andere als standardisiert war: Soziologie, Biologie, Psychologie, Philosophie – eine wilde Mischung. Kein Umweg, sondern eine Landkarte für das, was sie heute tut: Zusammenhänge sichtbar machen.

Ihre ersten Projekte drehten sich um Gesundheitsförderung. Fettarm. Salzfrei. Vorsorge für Herz und Kreislauf. „Ich wollte verstehen, worum es geht – also habe ich vier Wochen salzfrei gegessen.“ Kein Brot. Kein Käse. Keine verarbeiteten Lebensmittel. Kartoffeln ohne Salzwasser. „Das war richtig hart, aber es hat meinen Geschmack dauerhaft verändert.“ Heute ist sie salzsensibler – durch Erfahrung, nicht durch Theorie.

Ein prägendes Jahr verbrachte sie in den USA – in einem Bildungssystem, das ihre Neugier nicht als Störung, sondern als Bereicherung empfand. „In unserem Schulsystem war meine Neugier nichts wert. In Amerika wurde sie plötzlich geschätzt.“

Von dort führt das Gespräch fast automatisch ins kalifornische Silicon Valley – dem Hotspot der Start-up-Kultur. Ich frage, ob dieser mythische Ort noch immer Innovationskraft besitzt – und was Trump damit zu tun hat.
„Nein, das Silicon Valley ist nicht tot“, sagt Hanni. „Im Gegenteil – es ist ein Ort radikaler Innovation. Eine Region, in der das Netzwerk die Währung ist.“ Dort hat sie verstanden, was es heißt, Digitalisierung als kulturelle Kraft zu begreifen. Gleichzeitig fragte sie sich: Wie können so kluge Menschen so miserabel essen?
Aus dieser Frage wurde schließlich ihr Beruf.

Doch sie sagt auch: „Trump hat Vertrauen zerstört. Auch jenes in transnationale Kooperationen. Und das betrifft eben auch Ernährungsinnovationen.“

12 Jahre lang veröffentlichte sie ihren jährlichen Food Report, der zu einem Standardwerk für die Food-Branchen wurde. Nun hat sie mit dem Food Context Pilot ein neues Format entwickelt, das ihrer Intention noch näher kommt – einen Kompass in einer Welt, die sich kulinarisch, ökologisch, emotional verändert. Für sie sind Trends keine Schlagzeilen. Sondern Spiegel.

„Trends sind Antworten auf Sehnsüchte. Sie zeigen, was uns fehlt. Und was wir uns wünschen.“

Das Comeback der Brotboutiquen? Die Lust am Fermentieren? Kein Zufall sondern ein kollektiver Ruf nach Selbstwirksamkeit, Erdung, Sinn.

Und dann sagt sie etwas, dass ich auch bereits erlebt habe: Man kann zu früh dran sein. Ein Trend braucht Inhalt – und ein Wort, das ihn trägt. „Wenn etwas keinen Namen hat, sehen wir es nicht. Sprache hilft beim Wahrnehmen. Deshalb ist gutes Wording mehr als die halbe Miete.“

Es braucht Timing. Und Klarheit. Nur dann kann ein Trend bewegen. „Das Tool ist gelandet. Trends haben Macht – und mit KI revolutionieren wir gerade das ganze Feld. Ich arbeite inzwischen mit KI-gestützten Studien. Die Daten, die man da bekommt, sind unfassbar. Das wird die Trendforschung grundlegend verändern.“

Gleichzeitig, sagt sie, erleben wir ein paradoxes Phänomen:

„KI nimmt uns viel Arbeit ab und stößt – auch kulinarisch – ganz neue Türen auf. Gleichzeitig erlaubt sie uns eine Rückbesinnung auf das Selbermachen. Fermentieren. Sauerteigbrot. Fonds. Das Backen, das Experimentieren – das ist eine Rückeroberung der Natur.“

Nach intensiven Verkostungswochen mit Hightech-Produkten braucht sie Erdung, sagt sie. Dann kocht sie Kartoffeln. Kein Chichi. Nur Klarheit:
„Nicht weil es einfacher ist, sondern weil es ursprünglich ist.“

Diese Gleichzeitigkeit von Hightech und Handwerk ist für sie aber kein Widerspruch, sondern das Zeichen der Zeit.
„Technologie wird das Ursprüngliche nicht verdrängen, sondern ergänzen. Sie soll und wird mit Kultur tanzen.“

Und dann frage ich sie noch nach ihrem Kindheitsgericht, dabei zögert sie keine Sekunde: „Marillenknödel im Topfenteig. So, wie sie meine Mutter gemacht hat.“
Für Hanni sind sie mehr als ein Rezept. Sie sind sensorisches Gedächtnis. Identität. Beweis dafür, dass Essen Erinnerung konservieren kann. Und dass etwas verloren geht, wenn wir aufhören, es weiterzugeben.

In ihren Worten liegt kein Dogma. Sondern eine Einladung: zum Beobachten, zum Schmecken, zum Denken.
„Ich will nicht vorschreiben, wie wir essen sollen. Ich will zeigen, was alles möglich ist.“

Sie glaubt an viele kleine, mutige Wege. An das Verständnis, dass Wandel nicht Verzicht bedeutet – sondern die Chance, etwas neu zu gestalten.

„Zukunft ist nichts, das kommt. Zukunft ist etwas, das wir uns jetzt erarbeiten – mit Geschmack, Verstand und offenen Sinnen.“

Was bedeutet gute Ernährung?, will ich zum Schluss wissen.
Hanni lächelt. „Gute Ernährung beginnt damit, sich selbst ernst zu nehmen“, sagt sie. „Dieses Bedürfnis wahrzunehmen – und sich auf die Suche zu begeben.“
Produkte nicht einfach zu kaufen, sondern in ihrer Vielfalt zu begreifen. Ihre Empfehlung: nebeneinander verkosten. Spüren, schmecken, vergleichen.
„Wir gehen oft zu verkopft ans Essen“, sagt sie. Dabei sei es so einfach: Ein Löffel Naturjoghurt. Verschiedene Qualitäten. Bewusst nebeneinander. Keine Wissenschaft – sondern gelebte Sinnlichkeit.

Hanni Rützler ist wie ein bleibender Trend: nicht laut. Aber nachhaltig. Ihre Gedanken wirken nach – wie ein Duft aus der Küche, der etwas in uns verändert. Ganz leise. Ganz klar. Für immer. 

5. September 2025
Katharina Santl im #jungbleiben Portrait

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